
Sprache und Bild
Sprache und Bild – Teil 8: Achtsamkeit
Achtsamkeit und Fotografie
Bereits vor einigen Jahren tauchte ein Begriff zunehmend in den Medien, der Literatur und auch im Geschäftsleben auf: Achtsamkeit. Das vermeintlich neue Konzept war das neue Yoga für den Geist. Von den Therapiesitzungen bis in die Büros der Topmanager und Topmanagerinnen wurde das Konzept der Achtsamkeit gefeiert und als Allheilmittel gegen Stress und Burn-out sowie als Garantie für mehr Zufriedenheit im Leben angesehen. Inzwischen ist der Hype um das Wort abgeflaut – Zeit, dass wir uns den Begriff vornehmen.
Wie passt Achtsamkeit in diesen Blog? Was hat sie mit Fotografie, mit Sprache und Bild zu tun? Man versteht unter Achtsamkeit meist, im Hier und Jetzt zu leben, den Augenblick wahrzunehmen, zu achten und – ganz wichtig – nicht zu bewerten. Klassischerweise sollen Meditation, Körperarbeit wie Yoga oder Progressive Muskelentspannung oder auch kleine Rituale im Alltag zu mehr Achtsamkeit verhelfen. Ziel ist mehr Zufriedenheit und Freude im Leben. Gut und schön, wirst du denken, aber wie hilft uns mehr Achtsamkeit jetzt beim Fotografieren? Was habe ich von Achtsamkeit, wenn es um Bilder geht?

Achtsam sein beim Sehen
Als Fotografin oder Fotograf profitierst du zweifach, wenn du einen achtsamen Umgang mit der Fotografie an sich und auch mit Bildern pflegst. Wenn du voll bei der Sache bist, dich in dein Thema vertiefst und nur der Moment zählt, dann werden deine Bilder früher oder später besser werden. Sie werden mehr Seele bekommen, mehr Gehalt. Du beginnst, bewusste Entscheidungen zu treffen: Warum diese Brennweite, warum dieser Bildausschnitt, wieso diese Farbgebung? Daneben wird sich auch dein Sehen ändern: Wie gehst du an Bilder heran? Ganz egal ob es deine eigenen oder die eines Kollegen oder einer Kollegin sind?
Ich (Angelika) muss gestehen, ich bin schnell dabei, Bilder zu bewerten, vor allem meine eigenen: Sie sind mir selten gut genug. Noch viel zu selten lasse ich meine Bilder auf mich wirken. Das gelingt mir bei Fotos anderer Fotografen oder von Künstlerinnen leichter. Da funktioniert’s: Einfach mal nicht bewerten, nicht denken – schauen, was das Bild mit mir macht. Was löst es aus? Fühlt es sich stimmig an? Irritiert mich etwas? Erst, wenn sich dieser Eindruck eines Bildes erhärtet hat, gehe ich auf Spurensuche: Warum finde ich ein Bild gut? Was ist es, was mich berührt? Welches Element irritiert mich?

Achtsam erfahren
Um einfacher zu analysieren, warum Bilder funktionieren – oder eben nicht –, schadet es nicht, die Sprache der Fotografie zu beherrschen. Wissen um Bildgestaltung, um Gestaltungselemente hilft dabei, ein Bild zu verstehen, die Intention dahinter wahrzunehmen. Doch das Schöne ist, dass Fotografie auch ohne ganz viel Wissen erfahrbar ist. Wie auch andere Künste macht sie etwas mit einem, wenn man ein Bild betrachtet. Was aber wichtig ist: nicht bewerten, zuerst schauen und wirken lassen.
Du glaubst nicht, dass das funktioniert? Dazu eine Anekdote: Ich bin kein Fan von Ballett. Wobei ich zugeben muss, dass sich meine Erfahrungen mit Ballett darauf beschränken, was ich davon gehört oder zufällig im Fernsehen gesehen habe. Ich habe auch wenig Berührungspunkte mit klassischer Musik und mit Tanz. Kurz: Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass Ballett etwas sein könnte, was mich interessiert. Bis ich dann die Gelegenheit hatte, in Kiew Schwanensee von Tschaikowki zu sehen. Und ich muss sagen: Ich war beeindruckt! Die Gesamtheit von berauschender Musik, Bühnenbild und Tanz hat mich einfach fasziniert. Und obwohl ich rein fachlich keine Ahnung davon hatte, konnte ich den Abend sehr genießen und diese Ballettaufführung mit Körper und Seele spüren. Es machte etwas mit mir.
Kannst du dir immer noch nicht vorstellen? Dann gefällt dir vielleicht dieses Beispiel hier, das ich unlängst gelesen habe: Wein kann man wunderbar erfahren und genießen, auch ohne ihn verstanden zu haben, ohne Sommelier sein zu müssen. Ich glaube, darauf können wir uns bestimmt einigen. 😉 Also die Achtsamkeitsübung des Tages: Lass alle Bilder, die dir heute unterkommen, auf dich wirken, ohne sie zu bewerten. Nimm dir dazu bewusst eine Minute Zeit pro Bild. Das ist länger, als du dir vorstellen kannst, glaub mir. Viel Spaß!