
Sprache und Bild
Sprache und Bild – Teil 9: Geschichten erzählen
Eine der schönsten Eigenschaften von Sprache und Bildern ist, dass wir mit diesen Medien Geschichten erzählen können. Geschichten begleiten uns persönlich von klein auf und auch historisch betrachtet haben wir als Spezies unser Fortkommen durch Geschichten gesichert. Diente das Geschichtenerzählen vor langer langer Zeit eher der Wissensvermittlung, erzählen wir uns heute auch Geschichten, die uns unterhalten. Und damit sind nicht nur Märchen gemeint, die wir Kindern vorlesen, oder wilde Storys am Lagerfeuer, auch jedes Buch, jeder Kinofilm oder jede Serie lässt uns in eine Geschichte eintauchen.

Die Geschichte
Was braucht es, damit eine Geschichte in Bildern funktioniert? Im Gegensatz zum Film beispielsweise fehlen die Bewegung und auch der Ton bzw. die erklärende Sprache. In der Fotografie muss die Geschichte diese Elemente ersetzen, sie muss rein mithilfe der Bilder etwas erzählen.
Was ist also nötig, um eine Geschichte in Bildern zu erzählen? Es braucht dazu eine Art Grundthema. Das ist das Was. Was geschieht in der Geschichte? Um welches tieferliegende Thema handelt es sich? Familie? Zusammenhalt? Liebe? Einsamkeit? Freundschaft? Wichtig ist, dass der Betrachter etwas fühlt – je stärker er mitfühlt, desto stärker die Geschichte.

Nun kann ein Bild oder auch mehrere Bilder ein Thema haben. Damit jedoch daraus eine Geschichte wird, braucht es eine Handlung. Im Film hat man ja die Abfolge von (meist) 25 Bildern pro Sekunde – Bewegung ist daher sichtbar. In der Fotografie haben wir immer nur den Bruchteil einer Sekunde, daher ist die Auswahl des richtigen Moments so entscheidend: In welchem Augenblick ist das Geschehen am klarsten. Wo herrscht Bewegung, obwohl es ein statisches Bild ist?
Was sich auch förderlich auf die Geschichte auswirkt, ist eine Art von Irritation. Ein Konflikt. Ein Konflikt sorgt dafür, dass etwas weitergeht in der Geschichte, er dient als treibende Kraft und Herzstück der Geschichte. Die kleine Irritation bewirkt, dass wir das Bild oder die Bilder überhaupt erst wahrnehmen. Sie vermeidet, dass wir das Bild allzu schnell in eine Schublade stecken können. Das kleine Fünkchen, dass in uns etwas anregt, vielleicht sogar aufregt. So eine Irritation lässt sich schon durch eine spezielle Perspektive oder einen ungewöhnlichen Kontrast erreichen, einen Gegensatz wie alt vs. neu, künstlich vs. natürlich. Alles, was nicht erwartet wird, erregt Aufmerksamkeit.

Reduktion ist das nächste Schlagwort: so lange Dinge wegnehmen, bis alles Wesentliche da ist, aber alles Unnötige weg ist. Nicht überfrachten, ruhig ein kleines Geheimnis übrig lassen und Fragen aufwerfen. Wie langweilig wäre es, wenn man zu Beginn schon das Ende vorausahnt? Wenn man längst alles über die dargestellten Personen weiß? Das ist auch wie im Film: Würde ich da von Anfang an alles wissen, bräuchte ich ja nicht zuschauen. Jedes Element sollte bewusst mit ins Bild aufgenommen worden sein und hat auch eine eigene Kraft.
Letztendlich sind es aber wahrscheinlich die Menschen im Bild, die eine Geschichte spannend machen. Wir interessieren uns für Menschen und ihr Leben und finden es meist schön, etwas Persönliches über andere zu erfahren.
