
Sprache und Bild
Sprache und Bild – Teil 10: Perfektion in der Fotografie
Perfektion – das Streben nach Vollkommenheit
Perfektion spielt in der Fotografie häufig eine Rolle, und zwar sowohl bei der Fotografin oder dem Fotografen selbst als auch beim Menschen vor der Kamera. Fotografen streben nach dem perfekten Bild, dem perfekten Licht, dem perfekten Augenblick. Das Brautpaar will den perfekten Hochzeitstag feiern – perfektes Aussehen und durchgeplanter Ablauf inbegriffen.
Klingt doch gut, nicht wahr? Perfektion als das Streben nach der Vollkommenheit des Moments, des Tages oder des Aussehens. Ohne dieses Streben nach Makellosigkeit und Vollendung würde jeder Fortschritt aufhören. Wäre jeder immer zu 100 % zufrieden mit sich, seinem Leben, seiner Arbeit, seiner Leistung, würde er aufhören, sich weiterzuentwickeln. Wir würden keine neuen Freunde finden wollen, die Wissenschaft würde aufhören zu forschen, die Medizin würde nicht mehr nach der Heilung von Krankheiten streben. Wir würden nichts Neues ausprobieren, unsere Gehirne wären wohl unterfordert. Jeder Tag würde sich in eine unendliche Serie von gleichen Tagen einfügen und am Ende unseres Lebens würden wir zurückblicken und uns fragen, was wir überhaupt erlebt haben. Fotografen würden bloß noch belanglose Bilder machen und aufhören, nach dem einzigartigen Moment und dem perfekten Licht zu suchen. Eine Hochzeit wäre kein einmaliges Fest mehr, in dem so viel Liebe zum Detail steckt.
Und doch hat das Streben nach Perfektion auch Schattenseiten. Perfektion hinterlässt den fahlen Beigeschmack, nicht gut genug zu sein. Das kann ein Ansporn sein, aber auch ein Hindernis. Und zwar dann, wenn Perfektion zur Ausrede wird, um nicht ins Handeln kommen zu müssen. Sie kann verhindern, dass wir hinter unserer Arbeit stehen. Sie ist mit einer guten Fehlerkultur schwer vereinbar. Perfektion kann Stress und Unzufriedenheit fördern – das geschieht, wenn wir kleine Erfolge nicht mehr genießen können. Wenn das perfekte Licht fehlt. Wenn am perfekten Hochzeitstag die Torte nicht so ausfällt wie bestellt.
Perfektion in der Fotografie
Natürlich gibt es auch in der Fotografie beide Seiten der Medaille. Das Streben nach Perfektion führte zu der großartigen digitalen Technik, wie wir sie heute kennen. Vor ein paar Jahren war es fast unmöglich, bei ISO 3200 oder 6400 zu fotografieren. Oder besser gesagt: Fotografieren konnte man schon, aber beim Betrachten der Bilder hätte man am liebsten geheult. Heute geht das. Und wer weiß, welche Empfindlichkeiten in ein paar Jahren möglich sein werden. Was sich in der digitalen Fotografie momentan tut, ist atemberaubend. Allerdings darf es nie die Technik alleine sein, die über die Qualität oder Vollkommenheit des Bildes bestimmt – à la: Meine Cam ist fünf Jahre alt, daher sind die Bilder nicht besonders. Besser werden Bilder nicht allein durch eine bessere Kamera, sondern nur durch besseres Fotografieren.
Die perfekte Technik liefert immer schärfere, detailreichere Bilder, sie bietet aber auch ständig neue Möglichkeiten, sich zu verzetteln. Es gibt ja schließlich immer was Neues: Eine neue Linse, ein neues Kamerasystem, ein neues Preset für Lightroom, eine Aktion für Photoshop, ganz zu schweigen von den vielen Spielereien aus der Kategorie Nice-to-have (Instagram-Filter-Package, Drohnen, Unterwasserkameras, Schnittsoftware etc.).
Neben der immer besseren Aufnahmetechnik wird auch das Perfektionieren in der Postproduktion immer einfacher: Mit einem Klick kann man aus jedem Aschenputtel eine Prinzessin machen. Das Optimieren geht dann schon mal so weit, dass auf dem Bild ein totretuschiertes Gesicht zu sehen ist, das einer Wachspuppe mehr ähnelt als dem Menschen aus Fleisch und Blut vor der Kamera. Denn: Das Streben nach Vollendung verträgt sich nicht immer mit Hautunreinheiten. Aber sind wir doch ehrlich: Das kann ganz schön langweilig sein. Alle sehen gleich perfekt aus. (By the way: Was ist Perfektion in der Fotografie überhaupt, wer definiert sie?) Wir sind uns also einig: Wir wollen Mut zur Lücke haben und die kleinen Makel feiern – als das Echte.
